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Atlantic Cartier? – Nix gelernt!

AtlanticCompanion1Am 01.05.2013 brannte, nur wenige hundert Meter vom Veranstaltungsort des Evangelischen Kirchentag entfernt, der mit hochgiftigem und atomarem Gefahrgut beladene Frachter “Atlantic Cartier” im Hamburger Hansa Hafen. Jetzt, rund 2,5 Jahre später, wurde von der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) der Untersuchungsbericht 99/13 zum als schweren Seeunfall eingestuften “Brand auf dem ConRo-Frachtschiff Atlantic Cartier am 1. Mai 2013 im Hamburger Hafen” veröffentlicht.

In dem 122 Seiten starken, auf den 9.10.2015 datierenden, Bericht ist nachzulesen, wie sich der Brand und dessen Löschung vermutlich abgespielt haben könnte. Obwohl die AtlanticCompanion2Brandursache nicht ermittelt werden konnte, stellen die Autoren im nüchternen Gutachterstil verschiedene mögliche Varianten des Hergangs dar und zeigen den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft die ermittelten Risiken auf. So liest sich der Bericht wie ein Krimi aus einer Welt, bei der sich für die “hafenliebhabenden” Hamburger Bürgerinnen und Bürger tiefe Abgründe in Bezug auf die mit einem Saubermann-Image versehene maritime Wirtschaft auftun!

In jedem Wirtschaftsbereich gibt es Differenzen zwischen Schein und Sein. Wenn dieser Unterschied aber derart ausgeprägt ist, dass Leib und Leben von Menschen gefährdet ist, hört der Spaß spätestens auf. Und zumindest in einem Innenstadthafen wie Hamburg müssten mit diesem Bericht die Alarmsirenen bei den politischen Verantwortlichen mehr als schrill läuten.

Aus der schier unglaublichen Menge der von der BSU aufgezeigten Risiken führen wir stellvertretend an:

Gefahrgut: An Bord befand sich Uranhexafluorid. Über die geladenen Mengen (siehe Seite 100 ff.) bekam die BSU unterschiedliche Angaben benannt: die vom Senat genannte aus GEGIS entnommene Bruttomenge betrug 8,9 Tonnen. Die Liste der Reederei enthielt keine Angaben. Die BSU fasst zusammen, dass als “tatsächliche Gefahrgutmenge nach Angaben des verantwortlichen Transportunternehmens insoweit, als dass von der Bruttomasse in Höhe von 8,9 Tonnen tatsächlich lediglich 10,3 kg auf die vorgenannte radioaktive Substanz entfallen,… ,”Es handelt sich hierbei um eine Restmenge in vier entleerten, ungereinigten Behältern (so gen. Heels) auf einem 20-Fuß-Flat-Container.
Die BSU kommt zu dem Ergebnis: “Unabhängig von der Frage, ob in den Listen bei der Mengenangaben der Gefahrgüter die Gewichte der Behälter herausgerechnet wurden oder nicht, bleibt festzuhalten, dass die mitgeteilten Mengenangaben zum Teil sehr deutlich
voneinander abweichen.” Wir fragen uns, wie mit diesen eklatanten Mengendifferenzen im Katastrophenfall richtige Entscheidungen für die Sicherheit der Menschen in unserer Stadt, aber auch für die Helfer, getroffen werden sollen? Das kann nicht funktionieren!

Zustand des Schiffes: Ab den Seiten 27 ff. ist die Historie der “Atlantic Cartier” mit ihren um 1985 gebauten Schwesterschiffen (z.B. “Atlantic Companion”) samt nachtäglicher Verlängerung um 42,5m zu finden. Wir lernen die Slide Doors des betroffenen Laderaums 3 kennen und erfahren ab Seite 36: “Bereits zur Zeit der ursprünglichen Schiffsdimensionen, insbesondere aber seit der Verlängerung des Schiffsrumpfes traten immer wieder Risse oberhalb der Wasserlinie in verschiedenen Bereichen des Schiffskörpers auf. Ursache für diese Risse waren bzw. sind höchstwahrscheinlich konzeptionelle Mängel des Schiffsentwurfes und/oder bauliche Unzulänglichkeiten,…AtlanticCompanion3 Die Reederei hatte daraufhin in Zusammenarbeit mit der Klassifikationsgesellschaft ein Überwachungs- und Reparatursystem aufgebaut, “um nicht nur das Auftreten von Rissen sondern auch deren Beseitigung zu erfassen. Das CRMS wurde im Jahr 2010 anlässlich des Wechsels des Schiffsmanagements in das Safety Management System (SMS) der ATLANTIC CARTIER integriert und von der Klassifikationsgesellschaft abgenommen. Eigens für die kurzfristige und fachgerechte Reparatur der Risse befindet sich fast durchgängig ein Reparaturteam an Bord. Die Schweißer gehören nicht zur regulären Schiffsbesatzung, sondern sind bei einer externen Firma angestellt.” Zum Unfallzeitpunkt sollen ein Team aus fünf polnischen Schweißern und einem schwedischen Vorarbeiter an Bord gewesen sein. Der Umfang der regelmäßigen Schweißarbeiten wird ab Seite 47 ff. beschrieben.
Flaggenstaat der Atlantic Cartier ist Schweden – Klassifikationsgesellschaft ist Lloyd’s Register. Sowohl Flaggenstaat und Klassifikationsgesellschaft müssen diese regelmäßigen Schweißarbeiten als auch die Ausstattung der CO2-Löschanlage (Seite 32 ff.) als ausreichend – auch für den Transport von radioaktivien und explosiven Gefahrgütern – eingestuft haben.
Der Flaggenstaat Schweden und die Klassifikationsgesellschaft Lloyd’s Register gehören gemäß Veröffentlichung des Bundesverkehrsministeriums zum Paris MoU zu den Führenden! Wenn diese Führenden der Welt einen derartigen Schrott auf die Reise über die Weltmeere schicken, fragen wir uns, ob die international vereinbarten Hafenstaatenkontrollen überhaupt noch das Papier wert sind, auf denen sie gedruckt sind. Ist die in Deutschland für die Hafenstaatenkontrolle zuständige BG Verkehr überhaupt in der Lage, vernünftige Kontrollen durchzuführen? Erhebliche Zweifel an dem Gesamtsystem der internationalen, aber auch deutschen Schiffskontrolle scheinen mehr als angebracht!

Welthafen Hamburg: Der Hamburger Hafen rechnet sich zu den führenden Häfen der Welt. Gerade hier sollte man erwarten, dass hohe Sicherheits- und Qualitätsstandards für Not- und Katastrophenvorfälle gelten. Stellvertretend für diesen Themenbereich führen wir zwei Punkte aus dem Bericht an:

  • Parallel zu den vorgenannten Einsatzmaßnahmen wurde durch die Einsatzleitung
    vorsorglich für den Fall der nicht ausreichenden Löschwirkung des CO2 die bei den Feuerwehren Brunsbüttel und Cuxhaven verfügbaren Schneidlöschsysteme “Coldcut Cobra” (CCS) angefordert. Hierbei handelt es sich um die spezielle transportable
    Schneidlöschtechnik eines schwedischen Herstellers, bei der Löschwasser über eine
    spezielle Düse unter hohem Druck (> 250 bar) ein Schneidmittel (sog. Abrasiv)
    zugesetzt wird, mit dessen Hilfe der Wasserstrahl in kürzester Zeit durch alle
    bekannten Baumaterialien schneidet. Dies ermöglicht eine sichere Brand- und
    Rauchgasbekämpfung von der Außenseite des Brandobjektes.” (Seite 21 ff.) Warum ist eine derartige Technik in Hamburg nicht verfügbar?
  • Um 23:08 Uhr wurden erste Maßnahmen zur Bergung der in der Umgebung des
    brandbetroffenen Fahrzeugdecks gestauten 33 Container mit gefährlichen
    Ladungsinhalten unterschiedlicher Gefahrgutklassen eingeleitet. Die diesbezügliche partielle Entladung des Schiffes konnte erst gegen 23:30 Uhr und anfänglich noch nicht mit einer Containerbrücke sondern nur mit einem Mobilkran beginnen, weil im Hamburger Hafen auf Grund des bundesweiten staatlichen Feiertages sämtliche Umschlagaktivitäten ruhten. Es war daher zunächst notwendig, das erforderliche Personal für die Bedienung der landseitigen Umschlageinrichtungen und den Abtransport der von Bord zu schaffenden Container zu aktivieren. Gegen 03:35 Uhr war die Entfernung der Gefahrgutcontainer aus den brandbetroffenen bzw. gefährdeten Bereichen des Schiffes weitestgehend abgeschlossen.Das macht sprachlos!

Abschließend verbleibt die Frage, ob sich etwas ändern wird? Nehmen wir den Umfang der Berichterstattung im Hamburger Abendblatt zum Maßstab und das bisher von unserem Senat an den Tag gelegte Phlegma zur Anschaffung von neuen Feuerlöschbooten, müssen wir feststellen, dass sich nichts ändern wird. Der Brand der “Atlantic Cartier” hat in Hamburg keinen Fukushima-Schock ausgelöst. Genauso wenig wie die Explosionen und der mehrtägige Brand im Containerhafen von Tianjin in China.

Gefahrguttransporte

2.620 Fälle von falsch deklariertem Gefahrgut hat Hapag Lloyd allein im Jahre 2014 bei ihren weltweiten Transporten gefunden. Dies entnehmen wir einer Pressemitteilung der Reederei vom 01.04.2015. Als einer der weltweit führenden Gefahrguttransporteure entwickelte Hapag Lloyd die Software “Watchdog”, mit der falsch oder nicht deklarierte Containerfrachten automatisiert erkannt werden können. “„Angesichts von jährlich rund sechs Millionen transportierten Standardcontainern von Hapag-Lloyd mag die Quote falsch deklarierter Gefahrgutladungen insgesamt nicht allzu groß erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass ein einziger falsch deklarierter Container ausreicht, um eine Katastrophe auszulösen, ist die Brisanz klar, die von jeder einzelnen Falsch- oder Nicht-Deklaration ausgeht“, sagt Ken Rohlmann, Leiter der Gefahrgutabteilung von Hapag-Lloyd.

Wir begrüßen diese private Initiative der Reederei Hapag-Lloyd ausdrücklich: Bisher scheinen sich die öffentlichen Hamburger Behörden samt HPA für die Sicherheit bei Gefahrguttransporten nicht sonderlich zu interessieren. Ob und in welchem Umfang Gefahrguttransporte über den Hamburger Hafen abgewickelt werden, ist lediglich über die regelmäßigen Schriftlichen kleinen Anfragen über Atomtransporte durch die Stadt zu erfahren. Der Senat fügt jeder Antwort die Aussage bei, dass er selbst bzw. die HPA über diese Informationen nicht verfügt und nur für drei Monate auf die im GEGIS-System (outgesourct an die DAKOSY AG) zugreifen kann.

Die Daten im GEGIS-System beruhen ausschließlich auf Selbstauskünften der Reedereien bzw. Transporteuren. Wenn das Gefahrgut weder am Container noch auf der Transportliste korrekt deklariert sind, kann auch das GEGIS-System keine Antwort geben. Wie wir der Pressemitteilung von Hapag-Lloyd entnehmen können, scheint es nicht mal eine Plausibilitätskontrolle im GEGIS-System zu geben. Und auf Basis des GEGIS-Systems gibt der Senat in seinem blinden Systemvertrauen regelmäßig falsche Antworten.

Ob das zum 01.06.2015 einzuführende neue Meldewesen, das “National Single Window” die von Hapag-Lloyd angeführten Prüfungen durchführen wird, ist uns nicht bekannt. Aber auch das scheint die Hamburger HafenBehörden nicht zu interessieren.
In der Pressemitteilung haben wir auch lesen können, dass die Hapag-Lloyd Software in einer Sitzung einer “Hafensicherheitskommission” vorgestellt wurde und mehrere Reedereien Interesse gezeigt hätten. Die Hafensicherheitskommission wurde im Anschluss an die Terroranschläge des 11. September 2001 aufgrund einer Verschärfung der SOLAS-Konvention von 1974 gegründet und hat den Hamburger Hafen zu dessen SOLAS-Entsprechung (siehe auch “Elbvision oder Albtraum?“) vorbereitet .
Eine Terrorgefahr können wir nicht erkennen. Es gibt aber genügend weitere Ursachen, dass Schiffe mit Gefahrguttransporte zu einer Gefahr für die Bevölkerung werden können. An dieser Stelle sei auch an die “Atlantic Cartier” erinnert. Wir würden uns daher freuen, wenn auch der öffentliche Hafenbetreiber, die Wasserschutzpolizei, Aufsichtsbehörden und Terminalbetreiber an einer solchen Sicherheitseinrichtung immenses Interesse zeigen würden.
Auch wenn es nicht direkt zu Gefahrguttransporten passt: es wäre ebenso zu begrüßen, dass die Ladungsgewichte der Container spätestens beim Verladen überprüft werden würden. Falsch deklarierte, also zu schwere Container gefährden die Stabilität des Schiffes und sind eine mögliche Ursache für das Auseinanderbrechen der MOL Comfort.

Gefahrgutamnesie

GefahrgutflächeÜber den Hafenumschlag von Gefahrgütern, z.B. bei radioaktiven Atombrennstoffen oder Waffen, spricht man in Hamburg nicht gern. Regelmäßig müssen dem Senat über kleine Anfragen in der Bürgerschaft diese Umschlagsdaten aus der Nase gezogen werden: die zögerliche Informationspolitik wird vom Senat regelmäßig damit begründet, dass in dem von DAKOSY betriebenen Gefahrgutinformationssystem (GEGIS) die Daten lediglich für 90 Tage gespeichert werden (können).

Die EU-Richtlinie 2010/65/EU über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen und/oder Auslaufen spricht in  Artikel 5, Nummer 1 von einer technischen Neuerung. Bis zum 01.06. 2015 müssen die Meldeformulare der Schiffe in elektronischer Form über ein “Single Window” abgegeben werden. Über dieses einzige Fenster sollen nun alle Meldungen abgebenen werden, die bislang separat über verschiedene Systeme abgegeben wurden.

Die EU-Richtlinie 2010/65/EU wurde in Deutschland durch die Änderung der Anlaufbedingungsverordnung (AnlBV) in nationales Recht umgesetzt und bildet die Grundlage für die Verpflichtung der Schifffahrt die erforderlichen Informationen elektronisch beim deutschen “Single-Window”-Kernsystem anzumelden. Das Single Window (auch als Nationales Single Window mit NSW bezeichnet) wird hoheitlich vom Bundesverkehrsministerium als Zentrales Meldesystem für Gefahrgut und Schiffsverkehre (ZMGS) betrieben. Es soll federführend vom Havariekommando in Cuxhaven betreut werden. Auf der Seite vom ZMGS können wir lesen, dass ein Datenaustausch mit dem SSN/EU besteht. Hinter SSN verbirgt sich wiederum das SeaSafeNet der Europäischen Maritime Safety Agency EMSA. Im Film dürfen wir lernen, dass u.a. auch die Gefahrgüter an die EMSA gemeldet werden müssen.

Wie die Daten u.a. zu Gefahrguttransporten aktuell und spätestens ab dem 01.06.2015 fließen, lernen wir aus einer dbh-Präsentation für Bremen/Bremerhaven (ähnlich DAKOSY für Hamburg). Auf den Folien 8 und 9 sehen wir die Datenflüsse zum NSW und ZMGS sowie auf Folie 7 die Anbindung an das europäische SSN, auch ein Port Control System (PCS) wie es DAKOSY anbietet.

Wir können also festhalten, dass es bei staatlichen Bundes- und Europabehörden bereits seit Jahren ein umfassendes Informationssystem u.a. zu Gefahrguttransporten gibt, welches es diesen Behörden ermöglichen soll, statistische Auswertungen vorzunehmen. Welche Gefahrgut-Daten für das NSW abgefordert werden, können Sie in dieser Broschüre von – sie glauben es nicht – Hamburg-Hafen-Marketing ausführlich ab der Seite 51 ff. lesen.

Dakosy2Was hat das nun mit den zögerlichen Informationen des Hamburger Senates zum Gefahrgut-Umschlag zu tun? Die “Entschuldigung”, bei den GEGIS-Angaben auf das DAKOSY-System angewiesen zu sein, welches die Daten lediglich 90 Tage vor hält, erscheint uns vorgeschoben.

Da gemäß o.a. AnlBV bereits heute die Gefahrgut-Meldungen elektronisch über seinen Hafenbetreiber HPA und/oder den Dienstleister DAKOSY zur Weiterleitung an die hoheitlichen Bundes- und Europastellen entgegen genommen werden, ist es nicht vorstellbar, dass sich der Senat keine Möglichkeit des Datenzugriffs geschaffen hat. Dass er zudem über keine statistischen Auswertungen zur Gefahrgut-Umschlagsentwicklung verfügen soll, erscheint uns in Verantwortung gegen über den in Hamburg lebenden Menschen grob fahrlässig. Auch wenn DAKOSY die Daten nicht liefern kann oder will, wird und muss er sich die Informationen über die ZMDS bzw. das SSN beschafft haben.

Dass er diese Daten trotzdem nicht veröffentlicht, spricht für einen tiefen schwarzen Abgrund…